Genug gewartet, Burg!
Thüringer Triple, Teil 1
Schon in meiner wilden Jugendzeit, damals kurz nach dem Abi als mir die Gunst zuteil wurde, mit dem Fall der Mauer einen den wenigen wirklich positiven Momente der Geschichte mitzuerleben, schon damals also hatte ich beschlossen, mir die Wartburg anzuschauen. Nicht wegen der allfälligen Deutschtümelei oder wiederkehrender wallender Wagnerwonnen, sondern eher wegen Martin Luther und weil die hoch über Eisenach thronende Anlage einfach eine der interessantesten Burgen in Deutschland sein sollte.
Es kam wie es mußte: Die erste Reise in die "befreite DDR" noch vor der Wiedervereinigung führte nach Dresden - keine falsche Wahl, denn wir Jungspunde erhielten einen letzten tiefen Einblick in die Welt des "real vegitierenden Sozialismus" und machten die Bekanntschaft so vieler netter Leute, daß wir uns niemals dazu hinreißen ließen, die bald vereinigten Deutschen in dümmerhafte Kategorien wie "Ossis" und "Wessis" einzuteilen.
Jetzt, 25 Jahre später, geht es also endlich den Anstieg zum Burgparkplatz hinauf, noch ruht die Schranke mit dem Schild „Wegen Überfüllung geschlossen“ an diesem Sonntagmorgen seitlich weggeschwenkt in ihrem weichen Bett aus hohen Gräsern, aber der bereits gut gefüllte Parkplatz zeigt die generelle Notwendigkeit dieses sicher bei angehenden Wartburgbesuchern extrem unbeliebten Teils.
Etwas unterhalb des Parkplatzes befindet sich die Eselstation, von der aus Kinder und mit der Gnade eines Modelkörpers beschenkte (oder der Ungnade der Bulimie bestrafte) zarte Personen auf Zwergeseln ein paar hundert Meter hinauf in Richtung der Burg reiten können. Der Eselverleiher ist ein Original, während er zur Verkürzung der Wartezeit (die Gruppe muß voll werden) Schwänke erzählt, nehme ich aus dem Augenwinkel ein merkwürdiges, knallgelbes Fahrzeug wahr, das die Straße hinaufschnurrt, um nach einer Wende am Parkplatzeingang sogleich wieder heruntergerauscht zu kommen. Die Zeit zwischen Erkenntnis des Besonderen und durchaus behändem Vorbeiflitzen des gelben Schräghecks, das wie das Ergebnis eines One-Night-Stands zwischen einem frühen VW Passat und einem Wartburg der Siebziger aussieht, ist einfach zu kurz und mir gelingt nur ein übler, unscharfer Notschuß des von einem jungen Mann im zeitgenössischen blauen Trainingsanzug pilotierten Fahrzeuges. Es entpuppt sich bei späterer Recherche als einer von nur einer guten Handvoll produzierter Wartburg 355 Coupe-Prototypen.
Nach diesem ersten Wartburg-Erlebnis knapp unterhalb der Wartburg geht es dann endlich hinauf, die letzten Meter steil bergan bis zur Aussichtsstelle vor der Burg, wo man mit keuchenden, schwitzenden „Selbstläufern“ und völlig unverbrauchten älteren Herrschaften (die von unermüdlich im ersten Gang die Steigung hochheulenden VW-Bussen neuester Generation gegen ein kleines Entgelt hinaufgeschafft wurden) gemeinsam wahlweise die Burg schauen oder die Aussicht genießen kann. Ersteres ist heuer etwas getrübt durch die extensive Plasteverpackung eines großen Gerüstes an der Außenwand – man putzt sich fieberhaft für den 500. Geburtstag der Reformation heraus – während letzere an diesem Sonntag durch viele Wolken zwar weit ins Land aber wenig in pittoreske Postkartenrichtung geht.
Drinnen kann man sich am Drachenbrunnen im ersten Burghof erfrischen oder gleich weiter zum Palas schreiten. Angesichts des windigen Wetters empfiehlt sich der Besuch der Aussichtplattform auf dem Südturm an diesem Wochenende weniger, stattdessen erfährt man bei der Führung durch den Palas so einiges über die letzten beinahe 1000 Jahre im Allgemeinen und die Burganlage im Besonderen. Sehr empfehlenswert und von einem eloquenten jungen Guide mit angenehmer Stimme flüssig vorgetragen, ohne zu sehr auswendig heruntergeleiert zu wirken.
Selbstverständlich wirft man fast erleichtert nach all den schlafenden Grafen und dürstenden Fürsten nebst Wagnerianischem Thannhäuser-Höhepunkt im großen Saal auch endlich einen Blick in die Kemenate, in der Luther dereinst seine produktivsten 10 Monate erlebt hatte. Der berühmte Tintenfleck ist nicht nur eine Legende, sondern auch insofern Geschichte, als man von ihm nur noch ein großes putzloses Stück der Wand sieht, Resultat von vielen Jahren touristisch motiviertem Neubeflecken und touristischem Abknibbeln der Wand. Inzwischen verzichtet man auf gefakte Legendenbildung und präsentiert nur noch den Besucherschaden, den die Legendenpflege verursacht hat.
Noch ganz angefüllt mit dem Besten aus fast 1000 Jahren Wartburggeschichte geht es dann wieder hinunter zum Parkplatz, nicht ohne leicht verschmitzt wahrzunehmen, daß die Wegweiser, die auf dem Burgaufstieg die Fußgänger von den Autos trennen, als Auto tatsächlich auch in ihrer aktuellen Variante das charakteristische Gesicht eines – Wartburg zeigen. Voila.